Bindungsangst erkennen, verstehen und bewältigen

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Der Mensch ist ein soziales Wesen und wir alle tragen in uns die Sehnsucht nach einem liebevollen Partner. Wenn diese jedoch nicht erfüllt wird, unterdrückt die Psyche um sich selbst zu schützen, den Schmerz darüber. Das äußert sich dann in vielfältigen Formen der Bindungsangst. 

Unter Bindungsangst verstehen wir die Angst eine feste Beziehung einzugehen. Menschen mit Bindungsangst können oft schwer ihre Gefühle zu- und andere Menschen in ihr Leben einlassen. Aus diesem Grund gehen sie oft gar keine Beziehung ein. Wenn sie sich dennoch darauf einlassen, sind zahlreiche Konflikte vorprogrammiert. In den meisten Fällen sind sich die Betroffenen ihrer Bindungsangst gar nicht bewußt und schieben ihre Gefühle deshalb auf den Partner, was diesen wiederum sehr irritieren kann. So haben Menschen mit Bindungsangst die Hoffnung auf die große Liebe meist schon aufgegeben und finden sich damit ab, ständig wechselnde Beziehungen zu haben.

Was sind die Ursachen von Bindungsangst?

Die Ursachen für Bindungsangst reichen meist sehr weit zurück, nämlich ins früheste Kindes- und Säuglingsalter. Diese Erfahrungen können nicht bewußt im Gedächtnis des Neugeborenen gespeichert werden und deshalb sind diese Erfahrungen in der Regel unserem Bewusstsein nicht zugänglich, d.h. sie sind in unserem Unterbewusstsein, d.h. nicht unmittelbar abrufbar.

Ob man im späteren Erwachsenenleben bindungsfähig ist, hängt in hohem Maße davon ab, welche Erfahrungen man in den ersten Lebensjahren in der Beziehung zu seiner Mutter gemacht hat, denn die Mutter ist für das Neugeborene die erste und wichtigste Bezugsperson. Die Verbindung zu ihr ist symbiotisch, schon an der Nabelschnur erkennbar, aber auch später sind wir kompromißlos auf Wärme, Nahrung und Zuwendung unserer Mutter angewiesen – ohne sie können wir nicht überleben. Der Säugling kann zwischen Du und Ich noch nicht unterscheiden, er ist noch eins mit der Mutter. Von dieser lebenswichtigen Verbindung hängt es ab, ob unser Gehirn in den frühesten Kindheitsjahren sie mit “Sicherheit, Wärme und Geborgenheit“ verbindet, oder mit „Verlassenheit, Einsamkeit und Angst“. Deshalb spielt das Unterbewusste bei bindungsängstlichen Menschen eine so große Rolle, denn die späteren bindungsvermeidenden Reaktionen laufen meist unbewusst und unkontrolliert ab. Unser Bedürfnis nach einer vertrauensvollen Bindung ist biologisch in jedem von uns angelegt – dies zeigen auch zahlreiche Studien aus der Neurobiologie. 

Grundsätzlich sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Problematik von Bindungsängsten immer in einem selbst begründet und es nicht zielführend ist, die Schwächen beim Partner fokussieren zu wollen. Denn die problematischen Erfahrungen, die manche Menschen in ihrer Kindheit gemacht haben, haben oft zu einem labilen Selbstwert geführt. Das Selbstwertgefühl ist nämlich der Dreh- und Angelpunkt bei Bindungsangst. Man unterscheidet  zwischen aktiv und passiv Bindungsängstlichen. Passiv bindungsängstliche Menschen können sich nur schwer artikulieren und ordnen sich gerne unter. Sie meinen, dass sie die Erwartungen des Partners erfüllen müssen um geliebt zu werden. Der aktiv Bindungsängstliche hat den gleichen Glaubenssatz, d.h. dass er gar nichts muß: er hat schnell das Gefühl sich selbst zu verlieren, vereinnahmt und manipuliert zu werden. Beide Typen denken und fühlen also, dass sie entweder eine Beziehung führen o d e r frei sein können. Dass es beides gibt, können sie sich nicht vorstellen, d.h., dass Freiraum auch innerhalb einer Beziehung möglich ist.

Um die Ursachen seiner Bindungsangst zu erforschen, muß man erst einmal erkennen, ob es ein sich wiederholendes Muster gibt, mit dem man immer wieder konfrontiert wird. Diese Erkenntnis setzt den sehr wichtigen Prozess in Gang, dass man sich eingestehen muß, dass die Problematik der Bindungsangst mit einem selbst zu tun hat und nicht mit den jeweiligen Partnern. Dadurch tritt man jedoch aus der Opferrolle heraus und kann seine Probleme selber in die Hand nehmen.

Symptome der Bindungsangst

Generell vermeiden es bindungsängstliche Menschen sich festzulegen und halten sich möglichst lange alle Möglichkeiten offen, so dass eine Entscheidung nicht getroffen werden muß. Lieber geht man mal eine möglichst unkomplizierte Affäre ein oder auch eine Freundschaft, die so unverbindlich bleibt, dass man sich auch schnell wieder zurückziehen kann. Zudem werden diese Menschen es vermeiden, zu viel in eine Beziehung zu investieren und lieber viel Zeit in ihre Hobbys und den Job investieren. Häufig wird auch Distanz geschaffen durch die Verweigerung von körperlicher Nähe, sei es durch Küssen oder Geschlechtsverkehr. Stattdessen werden dem Partner auch Vorwürfe gemacht, die jegliche Grundlage vermissen lassen. 

Statt Verantwortung zu übernehmen, ergreifen viele z.B. nach einem Streit auch die Flucht. Diese Menschen vermeiden es für ihre Taten gerade zu stehen, vermeiden es auch für die Zukunft zu planen und brechen schlußendlich eine Beziehung scheinbar grundlos ab. Es wird zu eng, alle Taktiken um die Kontrolle zu behalten versagen, enorme unbewußte Ängste kommen an die Oberfläche.  Es gibt jedoch noch andere Ausprägungen der Flucht: Bevor eine Beziehung richtig begonnen hat, machen sich manche nach der ersten gemeinsamen Nacht sang- und klanglos noch vor dem Frühstück aus dem Staub, was den Partner sehr irritieren und verunsichern kann. Beliebte Mechanismen zur Vermeidung und Regulation von Nähe sind auch die Flucht durch Arbeit, Hobbys, Krankheit, Untreue, Abtauchen oder Fernbeziehungen. Viele verlieben sich auch bevorzugt in bereits gebundene Menschen, auch eine Form der Bindungsangst.

Meistens sind aber all diese Strategien nur eine Art Schutzmechanismus der Betroffenen, da sie Angst haben verletzt zu werden und meinen, dass sie sich die Liebe erst verdienen müssen – selten eine gute Grundlage für eine längerfristige Beziehung.

Sind Menschen mit Bindungsangst beziehungsunfähig?

Zwischen Menschen mit Bindungsangst und Beziehungsunfähigkeit gibt es einen gravierenden Unterschied: erstere wünschen sich ja nichts sehnlicher als eine tragfähige Beziehung, während letztere an folgenden Merkmalen zu erkennen sind: 

  • sie sind egoistisch
  • sie wollen keine Kompromisse eingehen und das auch ganz bewusst
  • sie interessieren sich nur für sich selbst und ihr eigenes Wohl
  • sie wollen eine enge Beziehung gar nicht eingehen

Der bindungsängstliche Mensch hingegen hat eine immense, in den meisten Fällen unbewußte Angst, verletzt und verlassen zu werden. Seine traumatischen Kindheitserfahrungen holen ihn in jeder engen und verbindlichen Beziehung immer wieder ein. Wie an jeder Angst läßt sich daran arbeiten – also ist ein bindungsängstlicher Mensch nicht auch beziehungsunfähig.

Welche Möglichkeiten gibt es, seine Bindungsangst zu überwinden?

Eine sehr wirksame Möglichkeit seine Bindungsangst abzulegen, ist eine Therapie. Ein Therapeut kann einen gezielt unterstützen und vor allem eine dezidierte Diagnose erstellen, woran die Bindungsangst liegt und ob es sich wirklich um eine richtige Bindungsangst handelt.

Wer sich dazu in der Lage fühlt, kann natürlich auch selbst an seiner Bindungsangst arbeiten, das erfordert allerdings Mut, eine ehrliche Haltung sich selbst gegenüber und sehr viel Geduld.

Die wichtigste Erkenntnis ist diejenige, dass die Problematik in einem selber begründet ist – nur so kann man wirksame Strategien entwickeln, seine Bindungsangst zu überwinden. 

Erforsche deine Ängste und frage dich:

  • wie nah kann ich jemanden an mich heranlassen?
  • was ist der Auslöser meiner Bindungsängste?
  • was passiert, nachdem meine Ängste aufgetaucht sind?

Wenn man sich dieser Dinge bewusst ist, kann man noch eine Ebene tiefer gehen und schauen, welche Gefühle dahinter liegen und wo der Ursprung für diese Gefühle ist. Es ist sehr hilfreich herauszufinden, wann und unter welchen Umständen, in welchen Konstellationen wir diese Gefühle schon einmal erlebt haben. 

Wenn man erkannt hat, woher diese tiefen Verletzungen stammen, die in der Gegenwart zur Bindungsangst führen, kann die Arbeit mit dem inneren Kind beginnen. Tröste es und habe Verständnis dafür, dass es damals nicht in der Lage war die Beziehungen zu ändern. Aber heute kannst du dein inneres Kind mit allem versorgen, was es benötigt. Das ist ein schmerzhafter Prozess, der jedoch mit der Zeit immer leichter wird.

Mache deinem inneren Kind klar, dass es in der Erwachsenenwelt Kompromisse gibt und nicht nur Schwarz oder Weiß, sondern auch Zwischentöne. Zwischen radikaler Kompromisslosigkeit und totaler Selbstaufgabe gibt es sehr viel Spielraum!

Viele bindungsängstliche Menschen haben eine große Angst vor Ablehnung, deren Hauptursache in einem geringen Selbstwertgefühl begründet ist. An seinem Selbstwertgefühl kann man aber arbeiten. Wenn es dir gelingt, deineÄngste zu überwinden, kommst du dir selbst und anderen Menschen wieder näher. Alle Wunder und die Schönheit deiner Umgebung  können neu entdeckt werden. Die Welt hält unendlich viele Möglichkeiten bereit, die darauf warten, von dir ergriffen zu werden.

Sehr hilfreich kann es auch sein, mit seinem Partner darüber zu reden, damit er deinen Prozess begleiten und Anteil nehmen kann. All das erfordert Mut, aber wenn man sich dieser Problematik

einmal gestellt und sie bearbeitet hat, steigert sich die Lebensqualität in allen Bereichen, nicht nur in Liebesbeziehungen, sondern auch in Freundschaften, sozialen Kontakten und in Arbeitsbeziehungen.

Wir Menschen sind geboren um zu lieben. Wir alle wollen lieben und geliebt werden – das ist unsere Mission, die wir zu erfüllen haben, alles andere ist Ergänzung und Zugabe. Aber erst, wenn man seine eigene Vergangenheit wirklich annehmen, lieben kann, ist man auch in der Lage, einen anderen Menschen ohne Ängste und Erwartungen zu lieben. Fast jeder Mensch hat eine Sehnsucht nach einer Herzensverbindung, nach Geborgenheit und Verständnis.

Man erfährt, dass man Sorgen und Ängste nicht mehr alleine durchstehen muß, sondern dass es jemanden gibt, dem man sich anvertrauen kann – das befreit und man kann sich als „ganzer Mensch“ fühlen, nicht mehr getrennt von anderen. Man nimmt am Leben mit all seinen Möglichkeiten und Facetten teil und dieser Weg ist jede Mühe wert. 

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Harriet von Behr
Harriet von Behr ist gelernte Verlagsbuchhändlerin, studierte anschließend Germanistik und Theaterwissenschaft und arbeitete während und nach dem Studium für mehrere Verlage im Lektorat. Aktuell schreibt sie u.a. für TheMan Artikel zu den verschiedensten Themen.
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